Hermann Hildenstein- In Stöppach

Ich ging in Stöppach zur Schule

Hermann Hildenstein: Ich ging in Stöppach zur Schule.
Fünfzig, ja noch mehr Jahre sind es her, daß ich in Stöppach zur Schule ging. Ich freue mich, daß mir noch heute meine Schulzeit gegenwärtig ist. Immer noch sehe ich mich in meiner Schulbank sitzen, die zuletzt die „Eselsbank" war. Jawohl: die „Eselsbank"! Sie war die hinterste und größte aller Bänke und lange Jahre unbesetzt. Wenn aber der oder jener nachsitzen mußte, saß er auf der „Eselsbank". War das nicht ein treffender Name? Als dann die Kinderzahl immer größer wurde, mußte auch sie „besetzt" werden. Und so saß ich als Sechster auf ihr. Aber das war alles viel später. Mein allererstes Schuljahr 1908 steht noch ebenso deutlich vor mir. Aus meiner Fibel schauen mich noch deren erst große, dann kleiner werdenden Buchstaben an, ebenso die Bilder auf ihren ersten Seiten: der Fisch, das Seil, das Rad, die Tür, der Esel, der Igel, der Jäger, die Dose. Kantor Fickel, der in meinen ersten drei Schuljahren mein Lehrer war, könnte ich noch jetzt zeichnen, hätte ich Talent dazu.
In meiner restlichen Schulzeit betreute mich Oberlehrer Stegner. Schon wenn ich seinen Namen höre, stürmen die Erinnerungen an meine Schulzeit nur so auf mich ein. Ich sehe ihn am Klavier in seiner „guten Stube" sitzen und höre uns Kinder um ihn fröhlich „Freiheit, die ich meine", „Das Blümlein auf der Heide" singen. Die Kinderfeste klingen noch in mir nach, wobei wir Kinder nicht nur Gedichte aufsagten, sondern auch Theater spielten. Übrigens hieß unser Kinderfest „Sedanfest" zur Erinnerung an den Sedantag. Das Fest begann immer mit dem Zug zum Frühgottesdienst nach Scherneck, wobei ich einmal sogar eine der großen Schulfahnen mit vorantragen durfte und stolz hinter meinem Vater marschierte, der als Trommler die Spitze bildete.
Schön waren die Schulausflüge, die sich immer in dem engen Raum — der für uns die große Welt bedeutete — Veste Coburg, Banz, Vierzehnheiligen mit dem Staffelberg bewegten. Es wäre uns frivol erschienen, hätte unser Lehrer einmal das doch „so unendlich weite" Bamberg gewählt. Denn woher sollte der arme Vater das Geld für die Bahnfahrt nehmen? Der Mutigste von uns schrieb vor jedem Schulspaziergang mit Kreide an die kleine Schultafel (wir hatten ja auch eine große hinter dem Ka-
theder): „Der Himmel ist blau, das Wetter ist schön — lieber Herr Lehrer, wir wollen spazieren gehn!"
Unvergeßlich ist mir jener Schulausflug auf Leiterwagen nach unseres Lehrers früherem Wirkungsort Mährenhausen,dann weiter über Bad Colberg nach Ummerstadt, wo wir noch die Töpfer an ihren Drehscheiben bei der Arbeit bewundern konnten. Da saßen wir Kinder — so stolz wie die heutigen im schmucken Bus — auf den harten Brettern unter den zu Halbbogen zusammengebogenen Birkenbäumchen. Es war selbstverständlich, daß bei der großen Kinderzahl in unserer einklassigen Schule der Lehrer allein nicht zurechtkam. Die Ersten der Oberklassen mußten also die Kleinen betreuen, sie lesen lassen oder beim Schreiben und Rechnen beaufsichtigen. Der Erste hatte sich auch sofort zum Lehrerpult zu begeben, wenn der Lehrer aus irgendeinem Grund das Schulzimmer verließ. Und diese „Ersten" waren meist gefürchtet. Sie schrieben einen Schwätzer oder Unaufmerksamen nicht selten an die Tafel. Und was das bedeutete, ist unschwer zu erraten.
Oberlehrer Stegner ließ uns gerne mit den Turnstäben zum Turnplatz marschieren. Stabübungen hatten es ihm angetan. Der alte Turnplatz mit seinen Kletterstangen und den zwei Holzbarren war an der „Kellergasse", dort, wo heute der Bockstall des Ziegenzuchtvereins steht. Statt der Turnstunde gab es auch einmal eine Schnitzel-Jagd.
Im Winter scheute unser Lehrer auch eine „Schneeballschlacht" nicht. Dabei ist es ihm einmal sehr schlecht ergangen, als er mit allen Buben und Mädels im Schulgarten gegen uns „Große" antrat. Wir losen Buben deckten ihn so ein, daß er den „Kampf" bald abbrach und fortan keine Lust mehr dazu verspürte. Wir grinsten uns schadenfroh zu, als wir im Schulzimmer an Verrenkungen und am Gesichtsausdruck unseres Lehrers erkannten, daß ihm die letzten Schneereste in Gestalt von eiskaltem Wasser körperabwärts liefen. Die „ungebrannte Asche" wandte er nur bei ganz Faulen oder Böswiligen an, eher schon das „Zobeln" (an den Haaren ziehen). Er hatte in der „Druckseite" seine beliebteste Strafe parat: Wer sich ungebührlich aufführte, nach dem „Gebetläuten" noch auf der Straße umhertrieb oder sonst eine kleine Sünde auf sich geladen hatte, mußte die „Druckseiten-Strafe" kosten, also eine halbe, eine ganze Seite oder noch mehr aus dem Lesebuch fein säuberlich abschreiben. Daß unser Lehrer damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, diese Strafe also letztlich ein erzieherisches und gleichzeitig bildendes Mittel war, kann ich bestätigen. Wie sonst wäre es möglich, daß ich das nette Lesestück „Ein Brief an den Frühling" noch heute rezitieren kann? Daß Lehrer Stegner im Ersten Weltkrieg auch immer wieder einmal in der Landwirtschaft mit Zugriff, daneben aber fleißiger Imker war, sei nicht unerwähnt. (Man beachte mein Gedicht „Die Bie"!) Als persönliche Auszeichnung empfand ich, daß mein Bruder Albert wie ich das Brot für unseren Lehrer in einer Schernecker Mühle holen durften. Dafür bekamen wir immer ein Zehnpfennigstück, und dieser „Groschen" war uns ein sehr reichlicher Lohn. Unvergeßlich blieb wir die Schulfeier am 18. Oktober 1913 zur Einnerung an die 100. Wiederkehr des Tages der Völkerschlacht bei Leipzig. Wir Schulkinder waren am späten Abend mit vielen Älteren auf dem „Scherneckers Berg" (Höhe des Zetzmannschen Ackers links vom „Pfarrhölzchen") versammelt, sangen „Flamme empor" und sprachen gemeinsam das be- kannte Gedicht „Zum 18. Oktober", während vor uns ein Freudenfeuer emporloderte, das zu den Feuern auf vielen Höhen der weiten Umgebung hingrüßte. Als stärkster Eindruck meiner Schulzeit ist mir jener dunkle Novembertag 1914 im Gedächtnis geblieben, an dem mein Lehrer die Trauerbotschaft vom Soldatentod seines ältesten Sohnes Alwin erhielt. Damals brach er laut schluchzend am Pult in die Knie. Ich als Zwölfjähriger konnte es einfach nicht fassen, daß mein verehrter Lehrer sich vom Schmerz so tief beugen ließ, er, der doch immer Rat wußte und stets zu trösten verstand. Noch heute besitze ich den schwarzumrandeten Brief vom 21. 11. 1914, den er meinem Vater nach Frankreich schrieb und in dem er im Zusammenhang mit dem Soldatentod seines Ältesten sein ganzes Leben skizziert hat. In Oberlehrer Stegners Stöppacher Zeit fielen auch die beiden Katastrophen des Dorfes: das Großfeuer am7. Juni 1912 (wobei das Anwesen des späteren Bürgermeisters Christian Hauck und die danebenstehende Scheune von Bernhard Bleitner vernichtet wurden) und die tragischen Schüsse, die auf der hohen Treppe des Heinrich Engelhardtschen Hauses und im Garten links hinter diesem Haus zwei Menschenleben auslöschten sowie ein Kindschwer verletzten. Diese Tragödie am 26. August 1911 erlebte ich in unmittelbarer Nähe. Noch heute sehe ich meinen Lehrer laut rufend vom Schulhaus quer über die Wiesen auf den Unglücksschützen zueilen, den er vergeblich vor dem Schuß in die eigene Brust zu bewahren versuchte. Auch der tragische Tod meines unvergeßlichen Schulkameraden Edmund Bauer kurz vor unserer Konfirmation 1916 sei in diesem Zusammenhang erwähnt.

Zu seinem Abschied von Stöppach 1925 widmete ich meinem Lehrer ein Gedicht. Unter dem 20. April 1925 bedankte er sich dafür mit folgenden Sätzen: „Herzinnigen, großen Dank für Deine lieben, sinnigen Worte. Tränen hat meine Frau viele, viele vergossen, und auch dem Andrees ging es sehr nahe."

Ich besuchte ihn in seinem Ebersdorfer Heim und machte mit ihm einen Spaziergang zum nahen Lichtenfeiser Forst. Später übersiedelte er nach Neustadt, wo seine Tochter Emma - die „Schul-Emma" -bis zu ihrem Tode im Frühjahr dieses Jahres lebte. Sie schrieb mir nach seinem am 2. November 1939 erfolgten Ableben als Dank für meine Beileidsbekundung
u. a. folgendes: „Der Wahlspruch meines Vaters lautete:, Treu leben, trotzend kämpfen, lachend sterben'. Und diese drei Sätze hat er bis zum letzten gehalten. Nach 14tägiger linksseitiger Lähmung ist er lächelnd verschieden; bis einige Minuten vor seinem Tode war er noch bei Bewußtsein; sein letzter Satz lautete: ,Andrees, das ist dein letzter Kampf!' — Wer so stirbt, der stirbt wohl." Treffender als in diesen eindrucksvollen Sätzen seiner Tochter läßt sich mein alter Oberlehrer nicht charakterisieren. Er war ein Lebensbejaher. Wie oft mußte er uns auszanken, wieviel Grund gaben wir ihm manchmal, uns böse zu sein — wir waren halt immer „seine Buben".

Mich packts, wenn ich so noochdenk,
Mich in dar Schulbenk sah,
Die Kameraden um mich,
Mein altn Lehrar ah;

Dar sich mit uns geplogt hat Tagtäglich spat und früh, Uns unra losn Strächla Noch jedesmol verzieh.

— Ach, könnt mei alter Lehrar Jetzt dort zur Tür reikumm! Ich wäß, do würd ar lächln: „Do senn ja meina Bubn!"

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